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Sehnsucht – oder warum 1913 ein Bestseller ist

Zugegeben, diesen Artikel hätte ich schon letztes Jahr schreiben sollen. Aber manchmal sieht man die Dinge halt erst aus der Distanz etwas klarer. So erkläre ich eben jetzt im Jahr 2014, warum die Menschen des Jahrs 2013 auf “1913″ abgefahren sind – gemeint ist der Bestseller von Florian Illies, der letztes Jahr monatelang die Literaturcharts anführte.

Gleich vorweg: ich habe das Buch nicht gelesen. Das ist mein Trumpf. Denn es hindert mich, an dieser Stelle zu schreiben, das Buch sei unterhaltsam, gut geschrieben, anregend, leicht zu lesen, humorvoll oder dergleichen mehr. Das alles ist es sicherlich. Aber darum geht es nicht.

Es geht darum, dass ich – also: ganz konkret ICH, der Geistbrausblogger – mir schon seit längerem denke, ich sollte doch mal “1913″ lesen. Das Buch kam mir von Anfang an interessant vor. Ohne dass ichs gelesen hätte. Und da habe ich mich dann irgendwann gefragt: warum eigentlich? Wie schafft es der Herr Illies, mich für ein Buch zu interessieren, von dem ich kaum mehr als Titel und Klappentext kenne?

Und was sagt das über die Interessenlagen, die Wünsche, die Sehnsüchte aus, die in mir – und in all den anderen, die das Buch lesen wollten – verborgen sind? Und warum führen diese Sehnsüchte die Menschen ins Buchgeschäft – und nicht in die Kirche, die doch ihre letzten und größten Sehnsüchte viel besser stillen könnte?

*

1913 – 2013 – die hundertjährige Wiederkehr des Jahres ’13 legt eine Vergleichbarkeit nahe. Wer “1913″ kauft, will nur peripher etwas über das Jahr 1913 wissen. In Wirklichkeit möchte er etwas über seine Gegenwart erfahren – und über die Verortung seiner selbst, der diese Gegenwart bevölkert. Der Leser will, indem er in der Spiegel von 1913 sieht, ein klareres Bild seiner selbst erblicken.

Nun müssen generell, damit ein Vergleich sinnvoll ist, zwischen den verglichenen Sachen sowohl Ähnlichkeiten wie Differenzen bestehen. Man kann einen Apfel sinnvoll mit einer Birne vergleichen – beides ist Obst, aber der Apfel ist rund, die Birne ist länglich. Das ist die spezifische Differenz – die differentia specifica, das Ziel des Vergleichs. Man kann nicht einen Apfel mit einem Dienstag vergleichen. Das ist Unsinn, es gibt keine ausreichenden Gemeinsamkeiten.

Darum kann man sehr gut 1913 mit 2013 vergleichen.

1913 ist einerseits die maximale Differenz zu 2013 – es ist das letzte Jahr des “langen 19. Jahrhunderts”, während wir 2013 schon weit ins 21. Jahrhundert vorgedrungen sind. Staats- und Gesellschaftsordnung, Kultur, Wirtschaft, Technik und Medien haben sich komplett umgekrempelt. 1913 ist für den Leser des Jahres 2013 eine sehr, sehr fremde Welt.

Andererseits steht “1913″ für ein Lebensgefühl, mit dem sich der Leser von heute sehr wohl identifizieren kann. Es ist eine Gesellschaft am Abgrund, eine brüchige, verunsicherte, in Auflösung befindliche Kultur, in die schon mannigfach die Moderne eingedrungen ist, in der gleichzeitig aber noch vielerlei alte Traditionen Bestand haben. Es ist eine janusköpfige, eine unüberschaubare, vielgestaltige Zeit, die allerdings – und das ist das entscheidende – im Gegensatz zu unserer eigenen, unüberschaubaren, vielgestaltigen, verwirrenden Gegenwart durch die hundertjährige Distanz inzwischen viel klarer und verstehbarer geworden ist.

Wenn also der Leser von heute auf 1913 blickt, so erkennt er die Irrlichter der Gegenwart wieder – doch gemalt in milden Pastelltönen, gegliedert und geordnet durch den historischen Abstand, durch das Wissen um all jenes, was in den letzten hundert Jahren geschehen ist. Der Leser des Jahres 2013 erkennt seine Gegenwart in der Vergangenheit verklärt wieder, und so kann er die Ordnung der Vergangenheit auf seine ungeordnete Gegenwart zurückübertragen, kann er seinem eigenen, rastlosen Leben im hundertjährigen Spiegelbild Halt geben.

Dieser Mechanismus ist sehr machtvoll – aber er ist nur einer der beiden Gründe, warum Florian Illies’ “1913″ soviele Menschen anziehen konnte.

Um den anderen Grund zu verstehen, denken wir einfach mal an ein anderes Jahr: 1788.

1788 hat viele Gemeinsamkeiten mit 1913. Es ist ebenfalls das letzte Jahr der “Alten Ordnung” – heiße sie nun Kaiserreich oder ancien régime. 1789 wie 1914 wurde die seit alters her bestehende Gesellschaftsstruktur durch ein lawinenartig übers Land fegendes, blutiges, traumatisches Großereignis hinweggefegt, das niemand in dieser Form voraussehen konnte und das als “Urkatastrophe” des 19. bzw. 20. Jahrhunderts noch jahrzehnte-, ja jahrhundertelange Nachwirkungen zeitigen sollte.

Und doch gibt es einen entscheidenden Unterschied.

Das Jahr 1788 hat keinen Zauber.

1913 verbindet man mit der Belle Epoque, mit klavierbegleitetem Champagnergeklirr auf Transatlantikdampfern, mit den Künstlern von Montmartre, mit der großen Zeit der europäischen Metropolen London, Paris und Wien.

1788 hingegen bringt man nicht mit der barocken Pracht des längst verstorbenen Sonnenkönigs, sondern mit Elend, Hungersnöten und einer Wenn-sie-kein-Brot-haben-sollen-sie-doch-Torte-essen-Mentalität in Zusammenhang.

1913 war die Spätblüte, die Überreife einer großen Epoche. 1788 war die künstliche Lebensverlängerung einer längst obsolet gewordenen Vergangenheit.

Florian Illies fängt diesen Zauber des Jahres 1913 mit seinem Untertitel ein, den ich bisher verschwiegen habe:

“Der Sommer des Jahrhunderts”

Und dieser Untertitel ist endgültig ein Geniestreich.

Denn erinnern wir uns: Der Leser von “1913″ liest kein Buch über 1913, sondern über 2013 – vermittelt durch den 1913er-Spiegel. Und diesem Leser vermittelt nun Illies: das, worüber du da gerade liest – deine Gegenwart – DU – das ist der Sommer des Jahrhunderts!

Der Leser, der eben noch verwirrt und orientierungslos durch seine unüberschaubare Gegenwart streifte, erfährt nun nicht nur, dass diese seine Gegenwart – im hundertjährigen Spiegel betrachtet – so unüberschaubar gar nicht ist: sondern er bekommt zusätzlich diese Unüberschaubarkeit als gerade die essentielle Magie, als das historische Momentum, als den in hundert Jahren nur ein einziges Mal auftretenden zaubervollen Sommer gedeutet, den erlebt zu haben seinem eben noch so tristen Dasein etwas ganz außergewöhnliches und unschätzbares verleiht: Bedeutung.

*

Die größte Sehnsucht jedes Menschen sei es, bedeutend zu sein, habe ich vor kurzem an anderer Stelle gelesen. Florian Illies beherrscht es meisterhaft, diese Sehnsucht zu stillen – übrigens auch schon in seinem früheren Bestseller “Generation Golf”.

Von Illies’ Meisterschaft können und sollen wir lernen. Denn die Sehnsucht wohnt in jedem Menschen. Sie muss nur erfüllt werden. Ihr wahres Ziel kennen viele nicht. Das Champagnergeklirr der Ozeanriesen kann sich niemand ins Jenseits mitnehmen.


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