Bisher haben mich ja die Erklärungen nie richtig überzeugt, der Papst komme eben aus einer ganz anderen Kultur und mache daher zwangsläufig viele Dinge ganz anders als wir erwartet hatten. Er kommt ja nicht aus Haiti oder dem Kongo, sondern aus Argentinien, dem wohlhabendsten Land Lateinamerikas. Ich war zwar noch nie dort, und ich weiß nicht, wieviel Elend man dort auf der Straße sieht. Aber ich würde doch spontan bezweifeln, dass es einen himmelweiten Unterschied zwischen Buenos Aires und beispielsweise Neapel gibt. Jedenfalls nehme ich an, dass der Unterschied zwischen Genf und Bombay um ein vielfaches größer ist.
Nun ist aber auf kath.net ein sehr interessantes Interview mit Michael Hesemann erschienen, das mich wieder ein Stück weit besser verstehen lässt, warum der Papst eben vieles so macht, wie er es macht. Und es liegt wirklich an einem kulturellen Unterschied. Die entscheidende Beobachtung ist, dass Franziskus vor seinem argentinischen Hintergrund insbesondere mit der “monarchischen Symbolik” des Papstamtes nicht viel anfangen kann.
In der Tat: Es gibt keine monarchiefernere Weltregion als Südamerika – der einzige Kontinent, wo es heute keine einzige Monarchie gibt, weder auf nationaler (wie in vielen Ländern Europas, der arabischen Welt und Ostasiens) noch auf subnationaler Ebene (wie insbesondere in Afrika). Und das nicht erst seit gestern – bereits vor 150 Jahren sah es ganz ähnlich aus: während es in der Alten Welt bestenfalls eine Handvoll Republiken gab (die Schweiz, San Marino, Liberia, Südafrika sowie die freien Städte Hamburg, Bremen, Lübeck und Frankfurt, wenn man sie dazuzählen möchte – mehr fallen mir nicht ein), sah es in Südamerika genau umgekehrt aus: Dort gab es bereits 1863 nur noch eine einzige Monarchie – das Kaiserreich Brasilien.
Nun ist es ja nicht so, dass Amerika keine monarchische Vergangenheit hätte. Die großen Reiche des präkolumbianischen Amerika waren genauso monarchisch wie die Fürstentümer der restlichen Welt auch. Doch wurde aus dieser monarchischen Vergangenheit anders als in Europa keine monarchische Tradition. Schuld daran waren – wer wohl? – die Europäer. Und die anbrechende Neuzeit.
Noch hundert Jahre vor der Entdeckung Amerikas wurde das letzte Heidenvolk Europas, die Litauer, unter Integration seiner monarchischen Strukturen christianisiert. Jahrhundertelang war das die übliche Methode. Zuerst trat der Herrscher zum Christentum über, dann folgte ihm das Volk.
Nun war die Neuzeit angebrochen. Die Spanier hatten dabei nicht nur das über tausendjährige Non Plus Ultra in ein Plus Ultra – “darüber hinaus!”: über die Säulen des Herakles nämlich – verkehrt, sondern auch ihre sonstigen Prioritäten umgekrempelt: nicht mehr das Seelenheil der Heiden und die Ehre Gottes, sondern Gold, Ruhm und Macht war vorherrschender Antrieb der Conquistadoren.
Ob die Spanier dabei wirklich, wie Hesemann sagt, gar kein Interesse an der Bekehrung der Indianer hatten, weil sie getaufte Christen nicht mehr hätten versklaven dürfen, kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls hatten sie keinerlei Achtung vor den amerikanischen Traditionen – einschließlich der monarchischen. Amerika hat niemals, wie achthundert Jahre zuvor Nordeuropa, eine translatio imperii erfahren – lediglich eine destructio imperii.
So haben ironischerweise wir Europäer in Amerika die Grundlagen für eine antimonarchische Kultur gelegt, die uns heute, da sie in Gestalt des ersten amerikanischen Papstes nach Europa zurückkehrt, so fremd erscheint. Es waren unsere Vorfahren, die die monarchischen Traditionen Amerikas zerstört und durch eine monarchische Fremdherrschaft ersetzt haben, die die Herzen der Menschen nie erreichen konnte.
An dieser Stelle bringt Michael Hesemann die Jesuiten ins Spiel. Sie bildeten den Gegenpol zur spanisch-portugiesischen, an Geld, Macht und Ausbeutung interessierten Oberschicht, die keine kulturelle Verbindung zu ihren Untertanen hatte und mit der sich die Untertanen folglich auch nicht identifizieren konnten. Die Jesuiten gingen zu den Menschen, missionierten sie und ermöglichten auf diese Weise “die Entstehung einer Mischgesellschaft aus Indigenen, Mestizen und Kreolen, die schließlich so viel Selbstbewusstsein entwickelten, dass sie sich in diversen Revolutionen erhoben und die Fremdherrschaft abschüttelten”.
Damit war der monarchische Gedanke für Lateinamerika allerdings endgültig gestorben.
Interessant ist, dass Hesemann diesen kulturellen Grundunterschied bis heute fortwirken sieht – obwohl ja inzwischen auch die Mehrheit der europäischen Staaten republikanisch verfasst ist (und die verbliebenen Monarchen weitgehend entmachtet sind). Während in Europa die Unterschicht dem Glauben fern stehe und die Kirche vorwiegend vom Bürgertum, der Oberschicht und dem Adel getragen werde, seien “die Gläubigen in Südamerika die Armen, nicht die westlich geprägte und damit hedonistische Oberschicht, die meist noch aus Nachkommen der Kolonialherren besteht”.
Der Ursprung dieser Grunddifferenz liegt in der frühen Neuzeit, in jener historisch beispiellosen Entscheidung der iberischen Monarchien, die monarchische Tradition zwar in Europa weiterzuführen, sie in Amerika hingegen ersatzlos zu vernichten. Und insofern diese Entscheidung nicht nur in der frühen Neuzeit getroffen wurde, sondern eben auch den typisch antitraditionalen Geist der frühen Neuzeit atmet, lässt sich diese Grunddifferenz gleichbedeutend auch so formulieren:
Amerika ist eine Kultur ohne Mittelalter.
Vielleicht ist das der Grund, weshalb Südamerika seit jeher zu den Weltregionen gehört, die mich am allerwenigsten interessiert haben. Und weshalb ich auch jetzt sagen muss: ich bin zwar froh, dass ich durch diese Überlegungen den Papst ein Stückchen besser verstehen kann – aber leider finde ich sein Tun und Lassen dadurch keine Spur aufregender oder inspirierender.
Ich bleibe halt ein alter Europäer, ein Monarchist, Traditionalist und Mittelalterfreund.
Vielleicht müssen wir wirklich auf den ersten Papst aus Afrika warten.