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Trifft der Clemens Brentano den Roland Freisler…

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Clemens Brentano

Nein, keine Sorge, hier kommt nicht gleich der nächste Naziwitz. Ich habe nur vor kurzem Herrn Freisler und Herrn Brentano getroffen, und das lustige ist, das Brentano ein Nazi war und Freisler keiner. Oder zumindest von den Leuten dafür gehalten bzw. nicht dafür gehalten wurde. Aber der Reihe nach.

Mein letzter Post hat naturgemäß nicht nur enthusiastische Reaktionen hervorgerufen. Unter dem Titel “lustige Judenwitze” veranstaltet z. B. Herr Schnitzler vom Balken-und-Splitter-Blog ein lustiges Feuerwerk an Blend- und Signalwörtern, die zwischen “menschenverachtend”, “Dummheit”, “unreif”, “Bübchen” und “Geschmacklosigkeit” changieren und zusammen einen Aussagewert → 0, dafür einen Pathosfaktor → 100 besitzen. Leider habe ich Victor Klemperers Lingua Tertii Imperii gerade nicht zur Hand, aber das Phänomen der inhaltsleeren Blendsprache wird dort sehr treffend beschrieben.

Nun möchte ich den werten Herrn Schnitzler selbstverständlich nicht mit dem unwerten Herrn Goebbels vergleichen, denn der weitere Schlagabtausch legte einen viel passenderen Vergleich nahe. Als ich anregte, Herr Schnitzler möge doch dem Signalwörterstelldichein auch eine inhaltliche Auseinandersetzung mit meinem Artikel beigeben, erfuhr ich klipp und klar:

Ihr Pizza-”Witz” bedarf keiner weiteren Auseinandersetzung. Sie sollten sich schämen!

Vor soviel argumentativer Brillanz musste ich freilich kapitulieren. Ich teilte Herrn Schritzler umgehend mit, er möge sich ebenfalls schämen, aber dummerweise konnte ichs nicht lassen, zu weiteren intellektuellen Höhenflügen anzusetzen mit dem Hinweis, es sei ja gar nicht “mein” Pizza-Witz gewesen, was mir wiederum den Rüffel einbrachte, das mache ja alles nur noch schlimmer, denn ich würde mich verwerflicherweise hinter einem Juden verstecken, “ein gängiges Muster”. Da hatte er natürlich recht, der Herr Fritzler, ich hätte sicherlich besser dran getan, den wahren Hergang zu verschweigen und zu behaupten, den Witz habe mir ein Freund aus der sächsischen Provinz erzählt. Ich hätte “die Juden”, welche bekanntermaßen hauptsächlich die Funktion haben, sich in Muster zu fügen, nicht individualisieren und damit als jene ominösen “Menschen” behaupten sollen, die man doch schon anno dazumal nur durch das Präfix “Unter-” ein- und anschließend ausmustern konnte.

Verständlich, dass der Herr Freitzler mit so jemandem nicht diskutieren will. Das mühselig gehegte Weltbild in Frage gestellt? Nicht mit mir! Da könnte ja jeder kommen. Und dann gehts auch noch um Juden?! Raus! Die Judenfrage ist schließlich die wichtigste Frage heute! Wer in dieser Frage vom gesunden Volksempfinden abweicht, wie es jeden Tag all unsere deutschen Zeitungen und all unsere deutschen Politiker verkünden, der hat sich selbst aus der Gesellschaft ausgeschlossen!! Endgültig!!! So wahr ich Freisler heiße!!!!

*

Dieser Metamorphose des Bürgers zum Nazi sei eine andere hinzugefügt (hier kommen wir dann zu Clemens Brentano), und wen wirds überraschen, dass Nasonis nächste Versgeschichte die Verwandlung des Nazis zum Bürger behandelt?

Über Andreas Molaus Ausstieg aus der rechtsextremen Szene habe ich schon vor einiger Zeit gepostet, und einige Zeit später kam es zu einem kurzen Briefwechsel mit Molau, in dem er mich korrigierte, dass er nicht (wie von mir unterstellt) behaupte, ein ganz neuer Mensch geworden zu sein, sondern dass er weiterhin seine Lebenserfahrungen bewahre und wertschätze, allerdings die Bewertungsmaßstäbe geändert habe. Er greift in einem aktuellen Interview in der ZEIT dieses Thema wieder auf und spricht über das Lied “Sorry, poor old Germany” von Reinhard Mey, das die Zerstörung des deutschen Kulturguts, der Loreley, Goethes und Heines durch die Amerikanisierung beklage und einen seiner frühesten Bezugspunkte in Richtung Nationalismus dargestellt habe.

Die ZEIT fragt ihn:

Sind Sie immer noch ein Nationalromantiker? Reinhard Mey und sein Bedauern für die vergessene Loreley – treibt Sie das nicht mehr um?

Und Molau:

Ich wundere mich über Aussteiger, die sagen, sie könnten gar nicht mehr verstehen, was sie früher gesagt oder gemacht haben. Dieses Lied von Reinhard Mey habe ich mir neulich noch einmal angehört – und es hat mich natürlich noch berührt. Diesen romantischen Zug, dieser Schmerz, der immer mit Veränderung verbunden ist, den empfinde ich schon noch. Aber ich sehe nicht mehr alles schwarz und weiß wie früher und vor allem nicht mehr so grottenpessimistisch.

Hier sind die Muster wieder. Während sie für Schnitzler (“keine weitere Auseinandersetzung!”) unbedingte Gültigkeit haben, werden sie von Molau Stück für Stück aufgelöst. Die Erfahrung, die er macht – den Schmerz über die Veränderung, über die Amerikanisierung, über den Verlust der Heimat und der Vergangenheit – benutzt er nicht mehr, um durch sie ein Muster zu bestätigen, sondern er lässt sie in ihrer irreduziblen Größe stehen. Während für Schnitzler der judenwitzerzählende Jude kein echter, komplexer, widersprüchlicher Mensch aus Fleisch und Blut ist, sondern lediglich ein willkommener Anlass, einen Feind (mich) abzuurteilen, ist für Molau der Schmerz schlicht Schmerz – ohne ihn für andere Zwecke zu instrumentalisieren. Denn dieses Nicht-Stehenlassen der Wirklichkeit, ihre Reduktion auf bloße Muster, die einem bestimmten Zweck dienen, ist zentrales Kennzeichen totalitärer Ideologien.

Es ist interessant, dass es sich in Reinhard Meys Lied (das ich leider nicht kenne und mangels schneller Internetverbindung gerade auch nicht hören kann) ausgerechnet um die Loreley dreht. Denn die Loreley ist ja nicht etwa durch den Verlust der Heimat bedroht – sie ist durch diesen Verlust überhaupt erst entstanden. Sie wurde 1801 vom Romantiker Clemens Brentano erfunden und 1824 vom Metaromantiker Heinrich Heine unsterblich gemacht. Die Romantik ist eine poetische – und das heißt: eine musterlose, untotalitäre – Reaktion auf den Verlust von Heimat, Vergangenheit und Naivität. Dieser Verlust ist ein zeitloser. Er geschieht immerfort, und er gebiert immerfort neue Loreleyen, neue Traum- und Sehnsuchtsbilder von Heimat, Vergangenheit und Naivität. Doch die Traumbilder wachsen nur, wenn man dem Schmerz lauscht. Wer den Schmerz ausbeutet und verzweckt, wird die Traumbilder nicht zum Leben erwecken. Die Nazis bauten Heimat und Vergangenheit pompöse Monumente, und doch lag nach zwölf Jahren alles in Schutt und Asche.

Wir brauchen mehr Brentanos und weniger Freislers. Jeder kann ein Brentano sein, und jeder kann ein Freisler sein, das ist eine Sache der Denkstrukturen und nicht des Parteibuchs. Der Nazi kann sich in einen Dichter verwandeln, und der unbescholtene Bürger in einen Nazi. Das geht ganz schnell. Und wir tun gut daran, nicht vorschnell den Einordnungen der Welt zu folgen. Ich muss die Begriffe Pharisäer, Zöllner, Torheit und Weisheit nicht fallen lassen, um meinen Lesern (denn, so der Geistbraus-Ehrenkodex: es gibt keine Off-Topic-Artikel!) die transzendente Gründung dieses Aufrufs klarzumachen.


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