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Was ist eigentlich das Abendland und brauchen wir das noch?

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Einer der Gründervater des Abendlands: Thales von Milet

Einer der Gründervater des Abendlands: Thales von Milet

Im Kommentarbereich meines vorletzten Artikels kam die Frage auf, was dieses ominöse “Abendland” eigentlich sei. Und zweitens, ob es dasselbige – nach erfolgter Entchristlichung Europas – überhaupt noch gäbe.

Die zweite Frage werde ich mit Ja beantworten, wozu ich gleich noch was schreiben werde. Die erste Frage beantworte ich schon mal wie folgt:

Das Abendland ist eine weltgeschichtliche Anomalie.

Das abendländische Weltverständnis ist außergewöhnlich, denn es speist sich vor allem aus zwei Quellen: der Entdeckung der Geschichte durch die Israeliten und der Entdeckung der Natur durch die Griechen. Man könnte noch die Entdeckung des Rechts und die Entdeckung der verändernden Tat durch die Römer hinzufügen, allerdings finde ich die beiden im Vergleich zu den vorgenannten weniger zentral.

1. Israel erlebt seinen Gott als einen Gott, der Sein auserwähltes Volk durch die Geschichte führt – Er befreit die Israeliten aus Ägypten, schenkt ihnen Land, befreit sie aus Babylon und verheißt ihnen zuletzt den Messias, um Sein Friedensreich endgültig wiederherzustellen. Diese teleologische, unumkehrbare Wahrnehmung der Zeitverläufe unterscheidet sich krass von der zyklischen Zeitwahrnehmung der Heiden, in der es nichts endgültiges gibt, allenfalls alle paar Jahrmillionen ein Weltenbrand alles auslöscht, worauf das ganze Schlamassel von neuem beginnt.

2. Die griechischen Naturphilosophen erleben die sie umgebende Welt nicht mehr als Symbolsprache, die auf eine überweltliche Wirklichkeit verweist, sondern als sich selbst genügende “Natur”, die sich durch Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten verstehen und beschreiben lässt. Dadurch wird die sichtbare Wirklichkeit unvergleichlich aufgewertet.

Diese beiden Entdeckungen, die sich im europäischen Mittelalter vereinigen, unterscheiden das Abendland vom Morgenland – und von allen anderen Gebieten dieser Erde, die weder dem Abend- noch dem Morgenland zuzuordnen sind.

Das Christentum würde ich hingegen nicht zu den spezifischen Quellen abendländischen Weltverstehens zählen – schließlich gibt es die christliche Religion auch in einer morgenländischen Ausformung. Christus wendet sich an alle Menschen, Abendländer, Morgenländer, Indianer und Südseeinsulaner gleichermaßen.

Nun, nachdem wir angefangen haben zu verstehen, was das Abendland ist, stellt sich die Frage: wo ist es?

Dazu habe ich die folgende Karte gezeichnet:

Abendland und MorgenlandDas Abendland ist erkennbar grün eingefärbt. Wie man sieht, ist es identisch mit den Gebieten der lateinischen Kirche. Interessanterweise gehören die Regionen, in denen die weltanschaulichen Quellen des Abendlands entdeckt wurden – Israel und Griechenland – heute nicht mehr zum Abendland (dies führe ich im Falle Griechenlands auf Alexander und den Hellenismus zurück, die zu einer Orientalisierung der griechischsprachigen Welt geführt haben – im Falle Israels liegt es wohl an der Diaspora, die das Volk Israel in einen abendländischen, aschkenasischen, und morgenländischen, sephardischen Zweig gespalten hat, die inzwischen zu einem ost-westlichen Hybridgebilde zusammengekommen sind).

Interessanter als die grünen Gebiete sind aber die in Rot- oder Rosatönen gefärbten Weltregionen. Wie sich der aufmerksame Leser sicher schon denkt, handelt es sich dabei um das Morgenland. Was aber hat es mit den fünf verschiedenen Farbtönen auf sich, die ich fürs Morgenland reserviert habe?

Sie schlüsseln uns Abendländern das Morgenland ungefähr so auf, wie Saul Steinbergs berühmte Karikatur den New Yorkern die Welt erklärt: hemmungslos selbstzentriert. Das Abendland – auch das klang in den Diskussionen der vergangenen Tage schon an – hat das Morgenland nämlich zu allen Zeiten geistig verwertet.

Die Entdeckungen der Juden und Griechen waren ja erst einmal erschreckend säkular. Das rituell-mythische Zeit- und Weltkonzept wurde zugunsten der neuen Konzepte von Geschichte und Natur verlassen, die im Grundsatz noch heute der atheistischste Universitätsprofessor teilen dürfte. Um das Abendland, das ja in seiner Blütezeit keinesfalls säkular war, ganz zu verstehen, müssen wir daher über diese beiden Entdeckungen hinaus den ständigen Reimport des Mythos aus dem Osten in den Blick nehmen.

Das Abendland existierte nie für sich. Es stand immer im Austausch mit dem Morgenland. Gerade aus der Überlagerung des historisch-naturphilosophischen durch das mythisch-symbolische Denken ist das europäische Mittelalter entstanden. Es war ja nicht säkular wie der erwähnte Professor! Und dennoch hielt es z.B. die dinglich-historische Johannesapokalypse in hohen Ehren, welche der morgenländischen Christenheit aufgrund ihrer Fülle vergänglicher Details immer etwas suspekt war – da hielt mans im Osten lieber mit dem Johannesevangelium, das die ewigen, unvergänglichen Wahrheiten des unverlöschlichen Lichts präsentierte, anstatt das Vergehen der stofflichen Welt zu zelebrieren.

Und überhaupt, die mittelalterliche Kunst! Wagte man doch, in der Musik plötzlich mehrstimmig zu komponieren, schwang sich gar zu verstiegenster und komplexester Polyphonie auf, was im Osten bis heute nicht geschehen ist: dort kreist die religiöse Musik in ebendenselben Bahnen, in denen sie schon vor tausend Jahren kreiste, und der verändernden Tat des Einzelnen (es gab keinen Perotin und keinen Josquin, es gibt keine namentlich bekannten Kirchenkomponisten) begegnete man mit Abscheu. Und doch blieb die mittelalterliche Kunst fromm, denn sie kreiste um das von Osten kommende Licht.

Diese Überlagerung des genuin Abendländischen durch das Morgenländische macht die Großartigkeit und Einzigartigkeit des europäischen Mittelalters aus.

Was aber ist nun das Morgenländische?

Hier kommen wir zu den fünf verschiedenen Rottönen zurück. Das Blassrosa bezeichnet leicht erkennbar die orthodoxe Christenheit (mit Blasslila sind die Gebiete gekennzeichnet, die unter westlichem und östlichem Einfluss gleichermaßen stehen, Blassrot bezeichnet die Hybridkulturen der Levante). Das Mittelrosa steht für die islamischen Gebiete. Das Knallpink aber steht für die Sehnsuchtsgebiete, über die man im Mittelalter kaum etwas wusste und über die man umso stärker phantasierte: Gold und Silber, Spezereien und andere Schätze gab es dort ohne Maß und Zahl – es ist die Heimat der Heiligen Drei Könige und des Priesterkönigs Johannes, alle Wunder und alle Weisheit dieser Erde sind dort versammelt – und für all diese Regionen, ob Timbuktu, Äthiopien, Südarabien oder Südasien, gibt es einen einzigen Namen:

INDIEN.

Dies ist das Morgenland in Reinkultur. Was sich in den prachtvollen Liturgien der morgenländischen Kirche nur andeutet, was man in den unglaublichen Mosaiken der arabischen Welt nur ahnen kann, wird in den drei Indien Wirklichkeit: eine Welt, die dem Himmel ganz nahe ist.

Leider ist diese zaubervolle Welt weit, weit weg. Und doch hat sie eine unglaubliche Kraft. Denn sie gibt dem Abendland, was es von sich aus nicht hat: die mythische Dimension.

Seit der Renaissance nahm der Einfluss des Morgenlands auf das Abendland immer mehr ab. Der Glaube des Abendlands verlor an Tiefe und verlor sich schließlich ganz. Der Blick wandte sich nach Westen, nach Amerika, wo das Abendland Filialen aufmachte, die – zumindest in Nordamerika – vom Mythos erst recht nichts mehr wussten. Das Abendland blutete spirituell aus.

Die für das Abendland konstitutiven Entdeckungen gerieten dabei nicht in Vergessenheit – ganz im Gegenteil. Aus der Naturphilosophie entstand die moderne Wissenschaft, aus der Entdeckung der Geschichte und der verändernden Tat wurde der moderne Kapitalismus und Imperialismus: das Abendland feierte – gottvergessen – seinen welthistorischen Siegeszug.

Von diesen Entwicklungen ist die Welt noch heute bestimmt. Das Abendland gibt es noch, es ist in weltlichem Sinne stärker denn je: zuletzt ist es sogar bis Ostasien vorgedrungen und hat dort ganz neue Synthesen mit den örtlichen Traditionen entstehen lassen. Auch heute noch hat das Abendland viele Spezifika, die man im Morgenland vergeblich sucht: moderne Kunst zum Beispiel, aber auch technologische Innovationen finden praktisch ausschließlich im Abendland und in den von ihm beeinflussten Gebieten statt. Ich habe Geräte von Miele, Apple, Samsung und Yamaha in meiner Wohnung, aber keine aus Ägypten, dem Kongo, der Mongolei, Russland oder Haiti.

So ist das Abendland zwischen dem Jahr 800 und dem Jahr 2015 von der weltgeschichtlichen Anomalie zur Weltmacht Nr. 1 geworden. In dem Maße, wie es an irdischer Macht gewonnen hat, hat es an jenseitiger Tiefe verloren. Und das Verhältnis zwischen Morgenland und Abendland hat sich umgekehrt: nicht mehr jenes beeinflusst dieses, sondern dieses beeinflusst jenes. Das Morgenland transzendiert nicht mehr das Abendland, sondern das Abendland verweltlicht das Morgenland. So erklärt es sich, dass die Krieger der ISIS ein genauso lächerlicher Abklatsch der Erbauer des Felsendoms sind wie Jorge Mario Bergoglio ein lächerlicher Abklatsch von Gerbert von Aurillac ist.

Wie sagten noch die Alten? Mundus iam senescit – die Welt wird alt. Nur eine kurze Frist, dann wird der HErr die Welt neu machen. Und dann werden das Abendland und das Morgenland endgültig nicht mehr sein, die Sonne wird nicht mehr auf- und nicht mehr untergehen, sondern der HErr Selbst wird die Himmlische Stadt erleuchten.


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