Seit kurzem wohnt Er über mir. Strenggenommen schon mein ganzes Leben lang. Aber so richtig bewusstgeworden ist es mir erst jetzt, nachdem ich es schwarz auf weiß lesen kann.
Ich muss gestehen, dass mir etwas mulmig ist. Natürlich bin ich froh, dass Er dort wohnt und nicht etwa der Leibhaftige. Aber so unter ständiger Beobachtung zu stehen? Ich sitze oder stehe auf, so hört Er es? Und was werde ich nun machen, wenns wieder mal von oben trampelt, während ich Klavier spiele? Bisher konnte ich ja immer davon ausgehen, dass da eben ein kulturloser Philister wohnt. Aber jetzt? Vielleicht will Er mir ja sagen, dass ich nicht immer nur weltliche Musik spielen soll?
Womöglich habe ich mich aber getäuscht, und es ist gar nicht der Allmächtige, der da wohnt, sondern nur Er. Das ist allerdings eher unwahrscheinlich, denn Er ist längst gestorben, genauso wie sein Bruder Onan, jene beiden frevlerischen Söhne des Juda, welche Er, also der andere, der Eine, aus dem Weg geräumt hat. Wenn es wirklich Er wäre, der über mir trampelt, dann könnte ich das getrost ignorieren. Er ist nämlich ein übler Ästhetizist gewesen, wie uns Rabbi Raschi erklärt.
Das verhielt sich so: Juda hatte drei Söhne – Er, Onan und Schela. Er, Seinen Erstgeborenen, verheiratete er mit der schönen jungen Tamar. Er aber wollte nicht mit ihr ins Bett, weil Er befürchtete, sie würde nach einer Schwangerschaft ihre Anmut verlieren. Er, also der andere, der Eine, hatte für dieses Konzept von Schönheit begreiflicherweise nichts übrig und legte Er um. Daraufhin bekam Onan das schöne Mädchen. Der war sauer, nur die Ex seines Bruders zu kriegen, und besorgte es ihr ebenfalls nicht ordentlich. Da wurde Er, also nicht der tote Bruder, sondern der andere, Eine, noch saurer und legte Onan auch um. Daraufhin bekams Vater Juda mit der Angst und wagte nicht, das Mädel mit seinem dritten und letzten Sohn zu verheiraten, weil er dachte, der müsse dann auch dran glauben. Da war Tamar sauer, keinen Mann abzukriegen und verkleidete sich als Hure, mit verschleiertem Gesicht und allem, was zu Zeiten der Patriarchen dazugehörte. Der fromme Juda war ganz aus dem Häuschen und ließ sich zum Preis eines Ziegenböckleins von ihr so richtig verwöhnen. Als Tamar den Schleier runterzog, wars Juda peinlich, aber zu spät – seine Schwiegertochter war bereits schwanger. Sie brachte Zwillinge zur Welt, der eine hieß Perez, und einer seiner Nachkommen sollte Jesus heißen.
Tja, das ist die Ästhetik, die Ihm gefällt und für die Er kein Verständnis aufbringen konnte. Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht. Tamar musste ihre Schönheit verlieren, musste gar ihre bürgerliche Ehre verlieren und als Hure gehen, um dem Erlöser die Wege zu bereiten. Der Erlöser selbst musste von Seinem himmlischen Thron steigen und ein kleines Kind, ein verspotteter, gekreuzigter Jüngling werden, um die Welt zu retten. Das ist die Schönheit Gottes. Alles zusammen, das Höchste und das Niedrigste, in einer Bewegung. Er hingegen wollte das Niedrige fliehen, wollte sich stefangeorgemäßig an der Reinheit laben, und hatte doch nur einen kleinen, kleinen Teil des Katholischen – so klein, dass es ihm nichtmal zum Überleben reichte: Er ließ Er sterben.
Von daher glaube ich nicht, dass über mir der Bruder Onans eingezogen ist. Er ist tot, mausetot. Es dürfte sich also tatsächlich um Ihn handeln – und ich werde mir in Zukunft doppelte Mühe geben, schön auf dem Klavier zu spielen: katholisch, alleszusammen, mit Höhenflügen und Tiefschlägen, ein Abbild des Kosmos, vom niedrigsten Wurm bis ganz nach oben, wo Er seinen Thron hat…